Ratgeber Prozessrecht: Erleichterter Weg zu Schadensersatz wegen Abgasmanipulationen – Zum BGH-Urteil vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21)
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Dieser Beitrag versucht eine Einordnung und Bewertung des aktuellen Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21) zum Thema Schadensersatz wegen Abgasmanipulationen bei Autoherstellern.
Der Beitrag beleuchtet zunächst kurz den ins Jahr 2015 zurückgehenden Hintergrund des Dieselskandals sowie auch das erste Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahr 2020, um sich sodann mit den Auswirkungen des aktuellen EuGH-Urteils vom 21. März 2023 (Az. C-100/21) zu befassen, das die Grundlagen für die geänderte, nachfolgend analysierte BGH-Rechtsprechung gelegt hat.
Rückblick ins Jahr 2015
Der Skandal um Abgasmanipulationen von Autoherstellern geht bis in das Jahr 2015 zurück.
Damals stellte sich heraus, dass VW eine spezielle Software in die Motorsteuerung eingebaut hatte, um auf dem Prüfstand bei Emissionstests niedrigere Stickoxidwerte zu erzeugen. Im normalen Fahrbetrieb waren die Abgasreinigungssysteme jedoch deaktiviert, um die Motorleistung und den Kraftstoffverbrauch zu verbessern. Dies führte dazu, dass die Fahrzeuge die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte im realen Straßenverkehr nicht einhielten.
Später kam heraus, dass VW nicht der einzige Hersteller war, der sich auf vorbeschriebene (oder ähnliche) Weise die vermeintliche Einhaltung der gesetzlichen Emissionsgrenzen „erschummelt“ hatten.
Folge hiervon waren Klagewellen von betroffenen Autokäufern. Die Klagen waren gerichtet auf Schadensersatz, Kaufpreisminderung und Rückabwicklung von Verträgen.
Zum ersten Grundsatzurteil des BGH aus dem Jahr 2020
In seinem ersten Diesel-Urteil vom 25.5.2020 (Az. VI ZR 252/19) hatte der BGH entschieden und insoweit die Vorinstanz bestätigt, dass das durch die Abgasmanipulation erfolgte Erschleichen von Typengenehmigungen auch eine unmittelbare Täuschung der Autokäufer bedeuten und gegebenenfalls eine Recht der Käufer auf Schadensersatz, unter Umständen auch Rückabwicklung, in Betracht kommen kann.
Die Leitsätze des Urteils lauteten:
a) Es steht wertungsmäßig einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugkäufer gleich, wenn ein Fahrzeughersteller im Rahmen einer von ihm bei der Motorenentwicklung getroffenen strategischen Entscheidung, die Typgenehmigungen der Fahrzeuge durch arglistige Täuschung des Kraftfahrt-Bundesamts zu erschleichen und die derart bemakelten Fahrzeuge alsdann in Verkehr zu bringen, die Arglosigkeit und das Vertrauen der Fahrzeugkäufer gezielt ausnutzt.
b) Bestehen hinreichende Anhaltspunkte für die Kenntnis zumindest eines vormaligen Mitglieds des Vorstands von der getroffenen strategischen Entscheidung, trägt der beklagte Hersteller die sekundäre Darlegungslast für die Behauptung, eine solche Kenntnis habe nicht vorgelegen. Darauf, ob die vormaligen Mitglieder des Vorstands von dem Kläger als Zeugen benannt werden könnten, kommt es nicht an.
c) Wird jemand durch ein haftungsbegründendes Verhalten zum Abschluss eines Vertrages gebracht, den er sonst nicht geschlossen hätte, kann er auch bei objektiver Werthaltigkeit von Leistung und Gegenleistung dadurch einen Vermögensschaden erleiden, dass die Leistung für seine Zwecke nicht voll brauchbar ist. Die Bejahung eines Vermögensschadens unter diesem Aspekt setzt allerdings voraus, dass die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung bei Berücksichtigung der obwaltenden Umstände den Vertragsschluss als unvernünftig, den konkreten Vermögensinteressen nicht angemessen und damit als nachteilig ansieht.
d) Die Grundsätze der Vorteilsausgleichung gelten auch für einen Anspruch aus vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gemäß § 826 BGB.
Dieses zunächst positiv klingende Urteil bedeutete für betroffene Autokäufer nicht unwesentliche Hürden auf dem Weg zu einem möglichen Schadensersatz, insbesondere:
- Ein Anspruch sollte gemäß dem damaligen Urteil Vorsatz voraussetzen. Wenn auch mit vom BGH aufgestellten Beweiserleichterungen, mussten die Betroffenen den Unternehmensleitern – ggf. auch eine über Mitarbeiter „vermittelte“ – Kenntnis nachweisen.
- Schwierigkeiten bereitete den betroffenen Käufern nicht zuletzt der erforderliche Schadensnachweis. So forderte der BGH (siehe obigen Leitsatz 3), dass „die durch den unerwünschten Vertrag erlangte Leistung nicht nur aus rein subjektiv willkürlicher Sicht als Schaden angesehen wird, sondern dass auch die Verkehrsanschauung (…) den Vertragsschluss als (…) nachteilig ansieht.“
Die „Vorgeschichte“ der neuen BGH-Rechtsprechung: Das EuGH-Urteil vom 21.3.2023 (Az. C-100/21)
Für das Verständnis der zugunsten der Verbraucher geänderten Rechtsprechung des BGH ist das übergeordnete Europarecht und damit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) von wesentlicher Bedeutung.
Der EUGH hat in einem ebenfalls noch sehr jungen Urteil vom 21.3.2023 (Az. C-100/21) die Grundlagen für die jetzt geltende BGH-Rechtsprechung gelegt, indem er – entgegen der bisherigen BGH-Rechtsprechung – dem europäischen Typengenehmigungsrecht einen Individualschutz der Verbraucher zugesprochen hat. In Randnummer 85 des EuGH-Urteils heißt es dementsprechend,
„(…) dass Art. 18 I, Art. 26 I und Art. 46 der Rahmenrichtlinie iVm Art. 5 II VO (EG) 715/2007 dahin auszulegen sind, dass sie neben allgemeinen Rechtsgütern die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller schützen, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSv Art. 5 II dieser Verordnung ausgestattet ist.“
Damit nicht genug, leitet der EUGH aus dem europäischen Recht gar einen Schadensersatzanspruch zugunsten des Autokäufers ab, wenn dem Käufer durch die Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist. In Randnummer 91 des EUGH-Urteils heißt es dazu,
„(…) dass sich aus Art. 18 I, Art. 26 I und Art. 46 der Rahmenrichtlinie iVm Art. 5 II VO Nr. 715/2007 ergibt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass der Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung iSv Art. 5 II dieser Verordnung ausgestatteten Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz durch den Hersteller dieses Fahrzeugs hat, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist (…)“
Der EUGH geht noch weiter und ermahnt die Mitgliedstaaten, dafür Sorge zu tragen, dass die Verbraucher auch tatsächlich in den Genuss dieses „europäischen Schadensersatzanspruchs“ kommen. Hierzu gehört es laut EuGH, dass die Hürden auf den Weg zu einem solchen Schadenersatz für den Verbraucher nicht zu hoch gehängt werden dürfen. Im EUGH-Urteil heißt es dazu unter den Randnummern 92 und 93:
„92In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften über die Modalitäten für die Erlangung eines solchen Ersatzes durch die betreffenden Käufer wegen des Erwerbs eines solchen Fahrzeugs ist es Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, diese Modalitäten festzulegen.
93Allerdings stünden nationale Rechtsvorschriften, die es dem Käufer eines Kraftfahrzeugs praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, einen angemessenen Ersatz des Schadens zu erhalten, der ihm durch den Verstoß des Herstellers dieses Fahrzeugs gegen das in Art. 5 II VO Nr. 715/2007 enthaltene Verbot entstanden ist, nicht mit dem Grundsatz der Effektivität in Einklang.“
Kurz gesagt folgt aus dem vorzitierten EUGH-Urteil die verpflichtende Anweisung an die Mitgliedstaaten, dass diese gefälligst dafür zu sorgen haben, dass ein Schadensersatzanspruch von Verbrauchern wegen Abgasmanipulationen, die gegen das europäische Typengenehmigungsrecht verstoßen, nicht bloße Theorie bleiben.
Zum neuen Diesel-Urteil des BGH vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21)
Das nun ergangene Urteil des BGH vom 26. Juni 2023 (Az. Via ZR 335/21) will die vorbeschriebenen Vorgaben des EUGH umsetzen.
Im Ergebnis hat der BGH die Hürden für Schadensersatzklagen von Diesel-Käufern in Deutschland deutlich gesenkt, wobei (siehe dazu meinen Ausblick am Ende dieses Beitrags) es fraglich erscheint, ob der BGH den Verbrauchern damit weit genug entgegengekommen ist.
Gemäß der geänderten BGH-Rechtsprechung können Fahrzeughersteller künftig auch dann zum Schadensersatz verpflichtet sein, wenn sie „nur“ fahrlässig gehandelt haben.
Zudem hat der BGH die weitere Vorgabe des EUGH, wonach den Autokäufern auch ein effektiver Weg zu Schadenersatz offenstehen muss, dadurch umgesetzt, dass er betroffenen Verbrauchern grundsätzlich und ohne Notwendigkeit eines Sachverständigengutachtens Schadensersatz in einer Spanne von bei 5 bis 15 % des Kaufpreises zubilligt.
Im Einzelnen:
EG-Typengenehmigung kann Schadensersatzanspruch nicht ausschließen
In seinem Urteil stellt der BGH zunächst erneut klar, dass weder eine erteilte EG-Typengenehmigung noch eine hinzutretende Übereinstimmungsbescheinigung geeignet sein können, einen deliktischen Anspruch des Autokäufers von vornherein auszuschließen.
Entscheidend sei, dass EG-Typengenehmigungen sowie auch ggf. hinzutretende Übereinstimmungsbescheinigungen nur Wirkung bezüglich eines bestimmten Fahrzeugtyps hätten, für einen deliktsrechtlichen Anspruch aber die Betroffenheit des konkret erworben Fahrzeugs entscheidend sei.
Rückabwicklung („Großer“ Schadensersatz) nach wie vor nur bei vorsätzlicher, sittenwidriger Schädigung
Unverändert hält der BGH daran fest, dass „großer“ Schadensersatz nur im Falle einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung verlangt werden kann. Ein Käufer könne im Falle der Enttäuschung seines auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung gestützten Vertrauens nicht verlangen, dass der Fahrzeughersteller das Fahrzeug zurücknimmt und den Kaufpreis abzüglich erlangter Vorteile erstattet.
Zwar schütze das europäische Abgasrecht auch den einzelnen Autokäufer gegenüber dem Hersteller, wenn das gekaufte Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, aber, so der BGH wörtlich (vgl. Rn. 22 des Urteils):
„Das Unionsrecht verlangt, was aufgrund des Urteils des Gerichtshofs vom 21. März 2023 geklärt ist, gleichwohl nicht, den Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag nicht abgeschlossen, also das Interesse auf Rückabwicklung des Kaufvertrags in den sachlichen Schutzbereich der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV einzubeziehen.“
Der BGH begründet dies weiterhin u.a. mit dem beschränkten Unrechtsgehalt einer „nur“ schuldhaften Schutzgesetzverletzung im Verhältnis zu einer sittenwidrigen, vorsätzlichen Schädigung.
Der BGH sieht im Unionsrecht und der Rechtsprechung des EUGH keine Vorgabe dahingehend, dass das nationale Recht einen Anspruch auf Rückabwicklung vorsehen müsse. Er bezieht sich dabei darauf, dass der EUGH lediglich Sanktionen fordere, die wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssten. Er nimmt dabei auch auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofs der Republik Österreich vom 25. April 2023 Bezug, der – für Österreich – einen Anspruch auf großen Schadensersatz bejaht hatte. Der BGH sieht diese Rechtsprechung in Modalitäten des nationalen, österreichischen Rechts begründet. Dem Urteil des Obersten Gerichtshofs entnimmt er dann auch, dass dieser selbst davon ausgehe, dass das Unionsrecht die Gewährung eines großen Schadensersatzes nicht fordere.
Anspruch auf Ersatz des sog. Differenzschadens wegen fahrlässiger Verletzung des EU-Abgasrechts
Der BGH räumt sodann ein, dass eine fahrlässige Verletzung des EU-Abgasrechts – in Form einer unzulässigen Abschalteinrichtung – einen Anspruch des Autokäufers auf Ersatz des sog. Differenzschadens begründen kann.
Insoweit habe der EUGH vorgegeben, dass die sog. Übereinstimmungserklärung nach Artikel 26 Abs. 1 der Richtlinie 2007/46EG einen individuellen Schutz des Fahrzeugkäufers, der auch darauf gerichtet sei, dass das erworbene Fahrzeug alle relevante Rechtsakte einhalte. Aus der Übereinstimmungserklärung leite sich gemäß EuGH insbesondere das Recht ab, das Fahrzeug ohne weitere technische Unterlagen in jedem Mitgliedstaat zulassen zu können.
Aus dieser Begründung wiederum folge nach der Rechtsprechung des EuGH eine Verknüpfung der Übereinstimmungserklärung mit der individuellen Kaufentscheidung des Verbrauchers. Dies wiederum korrespondiere mit dem vom BGH aufgestellten Erfahrungssatz, dass
„ein Käufer, der ein Fahrzeug zur eigenen Nutzung erwirbt, in Kenntnis der Gefahr einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung von dem Erwerb des Fahrzeugs abgesehen hätte“
(vgl. Rn. 30 des Urteils).
Als Ergebnis hat der BGH festgehalten (vgl. Rn. 32 des Urteils):
„Das demnach unionsrechtlich geschützte Interesse, durch den Abschluss eines Kaufvertrags über ein Kraftfahrzeug nicht wegen eines Verstoßes des Fahrzeugherstellers gegen das europäische Abgasrecht eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, ist von § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nach der gebotenen unions- rechtlichen Lesart geschützt. (…)“
Erforderlichkeit eines Verschuldens des Autoherstellers
Unverändert fordert der BGH ein Verschulden des Autoherstellers.
Der BGH räumt dabei ein, dass sich der EuGH zwar mit einem Verschuldenserfordernis nicht auseinandergesetzt habe. Der EuGH habe aber – was mir fraglich erscheint (!) – aus dem Unionsrecht einen Schadensersatzanspruch wegen unzulässiger Abschalteinrichtung nicht unmittelbar abgleitet, sondern einen solchen, von den Mitgliedstaaten näher auszugestalten Anspruch lediglich gefordert. Unter Verweis auf nationales Recht der Bundesrepublik Deutschland hält der BGH am Verschuldenserfordernis fest und hat dazu ausgeführt (vgl. Rn. 37 des Urteils):
„§ 823 Abs. 2 Satz 2 BGB erlaubt nach seinem Wortlaut eine von einem Verschulden des Schädigers unabhängige Ersatzpflicht nicht. Vielmehr tritt nach § 823 Abs. 2 Satz 2 BGB, sofern nach dem Inhalt des Schutzgesetzes ein Ver- stoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich ist, die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. Auch unter Ausschöpfung der Grenzen zulässiger Gesetzesauslegung kommt demnach die Ableitung einer verschuldensunabhängigen Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB nicht in Frage. Nichts anderes gilt mit Rücksicht auf die Möglichkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs findet eine solche Auslegung des nationalen Rechts ihre Grenze in einem im Gesetz zum Ausdruck kommenden Willen des nationalen Gesetzgebers (EuGH, Urteil vom 22. Januar 2019 – C-193/17, NZA 2019, 297 Rn. 74 mwN).“
Soweit der betroffene Autokäufer das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung nachgewiesen hat, steht dem Fahrzeughersteller damit nach wie vor die Möglichkeit offen, darzulegen und zu beweisen, dass er weder vorsätzlich gehandelt noch fahrlässig verkannt hat, dass das Kraftfahrzeug den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Gelingt dem Fahrzeughersteller das, haftet er auch in Zukunft nicht! Denn deutsche Recht der unerlaubten Handlung setzt für eine deliktische Haftung des Schädigers stets ein Verschulden voraus. Denn die deutschen Gerichte können – so der BGH – eine verschuldensunabhängige deliktische Haftung, die auch nach den Vorgaben des EuGH im Rahmen des geltenden nationalen Rechts zu entscheiden haben, nicht anordnen.
Erforderlichkeit einer Vermögensminderung – Differenzschaden stets anzunehmen
Für Fahrlässigkeitssachverhalte hält der BGH weiter an dem allgemeinen Grundsatz fest, dass ein Schadensersatzanspruch eine Vermögensminderung durch die enttäuschte Vertrauensinvestition bei Abschluss des Kaufvertrags über das Kraftfahrzeug voraussetzt.
Ausgehend von der Vorgabe des EuGH, den Verbrauchern einen „effektiven Schadensersatzanspruch“ zu gewähren, knüpft der BGH bei der erforderlichen Vermögensminderung an die jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs an, der ein für sich gesehen ein Geldwert zukomme.
Mit „Rücksicht auf den geldwerten Vorteil der jederzeitigen Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs“, genüge schon „die rechtliche Möglichkeit einer Nutzungsbeschränkung, die mit der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegeben ist“ (vgl. Rn. 42 des Urteils), um einen Schaden zulasten es Autokäufers anzunehmen.
Entsprechend erleidet der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts versehen ist, stets einen Schaden, weil aufgrund einer drohenden Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung die Verfügbarkeit des Fahrzeugs in Frage steht.
Zugunsten des Käufers greift dabei laut BGH der bereits erwähnte Erfahrungssatz, dass er im Falle der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung das Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte. Entsprechend ist für den erforderlichen Vermögensvergleich auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen.
Schadenshöhe im Bereich von 5% bis 15% des gezahlten Kaufpreises
Ausgehend von den Vorgaben des EUGH, wonach das nationale Recht eine effektive Sanktion für die Verletzung des Unionsrechts bereithalten muss, hat der BGH weiter entschieden, dass dem einzelnen Käufer stets und ohne Erforderlichkeit eines Schadensgutachtens ein Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5% und höchstens 15% des gezahlten Kaufpreises zu gewähren ist.
Begründet hat der BGH die Schätzung eines Schadens innerhalb dieser Spanne damit, dass einerseits ein Mindestschaden erforderlich sei, um so eine hinreichend effektive Sanktionierung sicherzustellen, anderseits aber berücksichtigt werden müsse, dass Gründe der Verhältnismäßigkeit und auch der den Hersteller treffende Kumulierungseffekt infolge mehrfacher Verkäufe eine Obergrenze gebieten.
Der BGH hat zur Begründung der Schätzungsspanne im Einzelnen ausgeführt (vgl. Rn. 72 ff. des Urteils):
„Nach § 287 Abs. 1 Satz 1 ZPO hat der Tatrichter die Höhe des Schadens unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu schätzen. Mit der Einräumung der Befugnis der Schadensschätzung nimmt das Gesetz in Kauf, dass das Ergebnis der Schätzung die Wirklichkeit nicht vollständig abbildet, solange sie nur möglichst nahe an diese heranführt. (…)
Die Schätzung des Differenzschadens unterliegt in den Fällen des Vertrauens eines Käufers auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung bei Erwerb eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs unionsrechtlichen Vorgaben. (…)
Der geschätzte Schaden kann aus Gründen unionsrechtlicher Effektivität nicht geringer sein als 5% des gezahlten Kaufpreises. Anderenfalls wäre die Sanktionierung eines auch bloß fahrlässigen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 im Hinblick auf die Förderung der unionsrechtlichen Ziele wegen ihrer Geringfügigkeit nicht hinreichend wirksam. (…)
Ein allein nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV und nicht auch nach §§ 826, 31 BGB geschuldeter Schadensersatz kann umgekehrt aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht höher sein als 15% des gezahlten Kaufpreises. Die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV umfasst Fälle objektiv vergleichsweise geringfügiger Rechtsverstöße, die der Gesetzgeber lediglich als Ordnungswidrigkeit eingeordnet hat. Hinzu kommt, dass die Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV den Fahrzeughersteller bezogen auf ein einzelnes Kraftfahrzeug im Falle der mehrfachen Veräußerung mehrfach trifft, so dass ein Kumulierungseffekt eintreten kann. (…)
Innerhalb dieser Bandbreite obliegt laut BGH die genaue Festlegung dem Tatrichter, der sein Schätzungsermessen ausüben kann, ohne sich vorher sachverständig beraten lassen zu müssen.
Ausblick
Dieses BGH-Urteil wird nicht das letzte zum Dieselskandal gewesen sein.
Das Urteil zeigt das nachvollziehbare und begrüßenswerte Bemühen des BGH, die Eingriffe des EuGH in die grundsätzlich allein den Mitgliedstaaten obliegende Regelung deliktsrechtlicher Ansprüche auf ein Minimum zu begrenzen. Besonders zeigt sich dies beim Verschuldenserfordernis, an dem der BGH mit „krampfhaft“ anmutender Begründung festhält, obwohl der EuGH von jedem Mitgliedstaat einen Schadensersatzanspruch fordert, der allein an eine unzulässige Abschalteinrichtung anknüpft.
AKTUELLE BEITRÄGE
Der Verstoß gegen eine internationale Gerichtsstandsvereinbarung kann schadensersatzpflichtig machen! – Zum Urteil des BGH vom 17.10.2019 (Az. III ZR 42/19)
Internationale Gerichtsstandsvereinbarungen, gerade wenn ihnen eine ausschließliche Geltung zukommen soll, haben in aller Regel nicht zuletzt den Zweck, die von der Vereinbarung begünstigte Partei vor oft sehr erheblichen Kosten eines Rechtsstreits in der Fremde zu schützen.
Leider ist es aber keine Seltenheit, dass der andere Vertragspartner im Streitfall von der Gerichtsstandsvereinbarung plötzlich nichts mehr wissen will. Hintergrund eines solchen an sich unredlichen Vorgehens ist – auf der Hand liegend – nicht zuletzt das Erpressungspotential, das sich mit einem solchen Vorgehen verbindet. Denn die sich – unter Verstoß gegen die Gerichtsstandsvereinbarung – einer ausländischen Klage ausgesetzt sehende Partei ist zur Vermeidung von Rechtsnachteilen regelmäßig gezwungen, im Ausland über Anwälte tätig zu werden. Dies wiederum ist oftmals sehr teuer, wobei hierbei die USA das wohl prominenteste Beispiel darstellen.
Sachverständiger befangen – Vorhandenes Gutachten dennoch vom Gericht verwertbar?
In einem praxisrelevanten Urteil hat sich der BGH klarstellend dazu geäußert, ob und in welchen Fällen das Gutachten eines für Befangen erklärten Sachverständigen vom Gericht verwertet werden darf.
Kurz-Überblick: Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile („HAVÜ“)
LEGAL+ NEWS Kurz-Überblick: Haager Übereinkommen über die Anerkennung und Vollstreckung
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