Zur Befangenheit von Richtern im Zivilprozess: Wenn Richter Schriftsätze einer Partei nicht lesen, kann dies einen Befangenheitsantrag rechtfertigen!

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Befangenheit von Richtern im Zivilprozess: Wenn Richter Schriftsätze einer Partei nicht lesen

Im Anschluss an meinen Überblicks-Beitrag zum Befangenheitsantrag nach § 42 ZPO möchte ich über ein interessantes Urteil des OLG Karlsruhe berichten. Demnach kann es die Besorgnis der Befangenheit begründen, wenn ein Richter die von einer Partei eingereichten Schriftsätze nicht liest. Im betreffenden Fall hatte ein Richter einen gegen ihn gerichteten Befangenheitsantrag übersehen, da er den diesen enthaltenen Schriftsatz ungelesen an die Gegenpartei zur Stellungnahme weitergeleitet hatte. Dies verstößt gegen die sog. Wartepflicht nach § 47 Abs. 1 ZPO, wonach ab Stellung eines Befangenheitsantrags bis zu dessen Erledigung nur „unaufschiebbare Amtshandlungen“ zulässig sind

Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022  (Az. 9 W 24/22) zu Recht geurteilt, dass ein Richter Schriftsätze lesen muss! Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022 (Az. 9 W 24/22) sehr lehrreich zu den Kriterien, nach denen die Frage der Befangenheit zu beurteilen ist, ausgeführt:


Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022 (Az. 9 W 24/22) zu Recht geurteilt, dass ein Richter Schriftsätze lesen muss! Das OLG Karlsruhe hat in seinem Beschluss vom 11.05.2022 (Az. 9 W 24/22) sehr lehrreich zu den Kriterien, nach denen die Frage der Befangenheit zu beurteilen ist, ausgeführt:

„(…) Es liegen Umstände vor, die geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des abgelehnten Richters am Landgericht … zu rechtfertigen.

1. Maßgeblich ist, ob aus der Sicht einer Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und an einer objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln. Dabei kommen nur objektive Gründe in Betracht, wobei diese jedoch aus der Perspektive der Partei zu betrachten sind. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles, die in ihrer Gesamtheit zu würdigen sind. (Vgl. Zöller/Vollkommer, Zivilprozessordnung, 34. Auflage 2022, § 42 ZPO Rn. 9 ff. mit Rechtsprechungsnachweisen.)

2. Eine Besorgnis der Befangenheit ergibt sich aus dem Verstoß des abgelehnten Richters gegen die Wartepflicht gemäß § 47 Abs. 1 ZPO. Nach den Ablehnungsanträgen der Beklagten war der abgelehnte Richter zu den Verfügungen vom 22.11.2021 (I, 208) und vom 03.12.2021 (I, 319) nicht berechtigt. Die Verstöße lassen aus der maßgeblichen Perspektive der Beklagten einen Schluss zu auf eine evident fehlende Sorgfalt des Richters bei der Wahrnehmung und Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten (vgl. zu diesem Gesichtspunkt Zöller/Vollkommer, a. a. O., § 42 ZPO Rn. 24 mit Rechtsprechungsnachweisen). Aus der Perspektive der Beklagten ergibt sich aus den Verstößen die Befürchtung, dass der abgelehnte Richter auch bei einer späteren Sachentscheidung das Vorbringen der Beklagten möglicherweise nicht in angemessener Weise ernst nehmen würde.

a) Die Verstöße des abgelehnten Richters sind schwerwiegend. Die Wartepflicht gemäß § 47 Abs. 1 ZPO hat nicht nur einen formalen Charakter; sie ist vielmehr Ausdruck des für den Zivilprozess wesentlichen Prinzips des gesetzlichen Richters. Unaufschiebbare Amtshandlungen sind bei den Verfügungen vom 22.11.2021 und vom 03.12.2021 nicht ersichtlich und vom abgelehnten Richter auch nicht geltend gemacht. Die Ablehnungsanträge waren, soweit prozessuale Fehler des Richters in der Zeit vor der Klageerwiderung gerügt wurden, auch aus der Perspektive des abgelehnten Richters zulässig und nicht rechtsmissbräuchlich. Die Verfügungen vom 22.11.2021 und vom 03.12.2021 beruhten daher nicht auf einer zwar unzutreffenden, aber vertretbaren, Rechtsauffassung des Richters (vgl. zu einem solchen Verfahrensverstoß von geringerem Gewicht BGH, Beschluss vom 07.03.2012 – AnwZ (B) 13/10 -, zitiert nach Juris).

b) Das zweifache Übersehen der Befangenheitsanträge durch den abgelehnten Richter ist bei einer üblichen Bearbeitung nicht nachvollziehbar. (…)

Der Hinweis des abgelehnten Richters, er habe sich bei der Klageerwiderung lediglich das Inhaltsverzeichnis angeschaut, ändert nichts. Denn dies entspricht, unabhängig von der Länge des Schriftsatzes, nicht den berechtigten Erwartungen einer Partei. Die Regelung in § 139 Abs. 1 Satz 3 ZPO geht vielmehr – unabhängig von der Arbeitsbelastung des Richters – davon aus, dass der Richter ständig beim Eingang von Schriftsätzen eine geeignete Prozessförderung im Auge behält (vgl. dazu Zöller/Greger, a. a. O., § 139 ZPO Rn. 4 c mit Nachweisen). Dies setzt eine zeitnahe Kenntnisnahme vom Inhalt des jeweiligen Schriftsatzes voraus.

Der Hinweis des Richters auf das Inhaltsverzeichnis der Klageerwiderung reicht zudem nicht aus, um den (ersten) Verstoß gegen die Wartepflicht in der Verfügung vom 22.11.2021 zu erklären. Aus dem Inhaltsverzeichnis ergibt sich, dass die Ausführungen in der Klageerwiderung „zur Sache“ erst auf Seite 7 beginnen, so dass für den Richter zu Beginn des Schriftsatzes (vor den Ausführungen zur Sache) mit anderen prozessualen Ausführungen zu rechnen war, die aus der Perspektive des Prozessbevollmächtigten der Beklagten möglicherweise eine vorrangige Bedeutung haben sollten. Auch das Inhaltsverzeichnis hat der abgelehnte Richter zudem allenfalls unvollständig zur Kenntnis genommen; denn eine Zustellung der Klageerwiderung an die Streitverkündete (vgl. I Ziffer 1 d) kk) des Inhaltsverzeichnisses) ist zu keinem Zeitpunkt erfolgt.

Die Beklagte weist im Zusammenhang mit dem Befangenheitsantrag zu Recht darauf hin, dass Richterin am Landgericht … als Vertreterin des abgelehnten Richters durch die Verfügungen vom 10.01.2022 (I, 328) und vom 08.02.2022 (I, 342) das Verfahren in der Hauptsache gefördert hat, obwohl sie hierzu gemäß § 47 Abs. 1 ZPO nicht befugt war. Wenn es sich um eine unaufschiebbare Handlung gehandelt hätte, wäre nur der abgelehnte Richter, Richter am Landgericht …, selbst für diese Maßnahmen entscheidungsbefugt gewesen. Aus der Perspektive der Beklagten stellt sich die Frage, ob der abgelehnte Richter – im Zusammenhang mit den eigenen Verstößen gegen § 47 Abs. 1 ZPO – der unzutreffenden Auffassung war, nach dem Ablehnungsantrag könne die Richterin am Landgericht … als seine Vertreterin bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Befangenheitsantrag das Verfahren in der Hauptsache durch geeignete Maßnahmen fördern.

c) Ein „offenkundiges Versehen“ steht der Ablehnung des Richters nicht entgegen.

a) Zwar ist nach der dienstlichen Stellungnahme des abgelehnten Richters vom 12.01.2022 davon auszugehen, dass die Verstöße gegen § 47 Abs. 1 ZPO auf einem Versehen (zweifaches Übersehen der Ablehnungsanträge) beruhten. Es bestehen jedoch gewisse Zweifel, ob dieses Versehen aus der maßgeblichen Perspektive der Beklagten offenkundig war (vgl. zu einem offenkundigen Versehen bei einem Verstoß gegen § 47 Abs. 1 ZPO beispielsweise OLG Brandenburg, NJW-RR 2000, 1091), oder ob aus der Perspektive der Beklagten mit der Möglichkeit zu rechnen war, dass der abgelehnte Richter seine Wartepflicht nicht ernst nahm. Diese Frage kann für die Entscheidung des Senats jedoch dahinstehen.

b) Auch wenn man von einem offenkundigen Versehen des abgelehnten Richters ausgehen sollte, bestehen aus der Perspektive der Beklagten vernünftige Zweifel an der Unparteilichkeit des Richters. Denn das Versehen ist nur durch evident mangelnde Sorgfalt des Richters erklärbar (siehe im Einzelnen oben). Das bedeutet: Die Fehler des abgelehnten Richters rechtfertigen aus der Perspektive der Beklagten die Befürchtung, dass der abgelehnte Richter auch bei der weiteren Verfahrensführung, insbesondere bei einer späteren Entscheidung in der Sache, Vorbringen und Standpunkte der Beklagten nicht ausreichend berücksichtigen und ernst nehmen könnte.“

 

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Fazit

Die Ausführungen zeigen einmal mehr, dass  die Besorgnis der Befangenheit eines Richters aus der Perspektive der betroffenen Partei zu beurteilen ist, die nicht wissen kann, was im zuständigen Richter wirklich vorgeht. Vorliegend hatte die betroffene Partei zu Recht das zweifache „Übersehen“ eines Antrags als grob nachlässig empfunden. In einem solchem Fall spielt es dann keine Rolle mehr, ob der Richter „aus Versehen“ nachlässig war.

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